Der Zeitgeist der Industrie 4.0:
Digitalisierungsschub für das Gesundheitswesen
Der Stellenwert der Digitalisierung im Gesundheitswesen hat durch die Pandemie deutlich an Gewicht gewonnen. Durch den Ausnahmezustand sind die Lücken in der digitalen Transformation sichtbar geworden. Der Wille, diese zu schliessen, zeichnet sich klar ab. Dies wurde beispielsweise im Rückblick von der Spital-IT in einem Webinar durch die HIMSS und die Spital STS AG vom Juni erläutert.
Im Zeitalter der Industrie 4.0. folgt der Automatisierung und Digitalisierung die Vernetzung. Sowohl zwischen Menschen (Netzwerke) wie auch zwischen Maschinen (Internet of things). Und auch als Kooperation zwischen Menschen und künstlicher Intelligenz. Hierbei gilt es, die Stärken aus beider Systeme zu nutzen, nicht das eine durch das andere ersetzen zu wollen.
Aus dem Vernetzungsgedanken entsteht die Forderung nach Transparenz und Partizipation. Darin liegt grosses Potenzial. Erkenntnisse, die aus der Digitalisierung entstehen, vernetzt zu nutzen und daraus die nächsten Schritte abzuleiten, ist erst in grösseren und technisch affineren Unternehmen Standard.
Auch hier zeigte die Pandemie Nachholbedarf im Gesundheitswesen auf. Die Datenerhebung ist sehr unterschiedlich geregelt, meistens nicht automatisiert und nicht vernetzt. So können aktuell keine übergreifenden Echtzeitdaten als Entscheidungshilfe eingesetzt werden. Dieser Umstand wurde beispielsweise während des Lockdowns bei der Übermittlung der jeweiligen kantonalen Fallzahlen an das BAG deutlich.
Worin liegen die Gründe für die Komplexität? Hier bewahrheitet sich die Expertenmeinung von Prof. Dr. Andréa Belliger in der Realität: «Der gegenwärtige gesellschaftliche Veränderungsprozess, der als Digitale Transformation bezeichnet wird, geht weit über die Nutzung digitaler Tools und Technologien im Umgang mit Gesundheit und Krankheit, über Interoperabilität zwischen Leistungserbringern im Sinne von eHealth und digitale Prozesse hinaus und impliziert eine völlig neue Art, wie wir uns als Gesellschaft aufstellen. Dieser Paradigmenwechsel von geschlossenen, top down steuer- und regulierbaren Systemen mit klaren Rollen und Funktionen hin zu offenen, selbstorganisierenden, heterogenen Netzwerken geht einher mit einer Reihe von «neuen» gesellschaftlichen Werten und Normen wie offene Kommunikation, Transparenz und Partizipation. Wenn sich die Welt tatsächlich in diese Richtung bewegt, verändert sich auch das heutige Gesundheitswesen. Gesundheit wird zum Plattformthema, Netzwerkorganisationen, Ökosysteme und vernetzte Akteure dominieren, das Gesundheitswesen wird zum soziotechnischen Netzwerk und Technologie zu einem massgebenden Akteur. Offenheit und Transparenz werden zur individuellen wie organisationalen Default-Einstellung, Netzwerk-Benefit und Shared Value bestimmen die Ökonomisierung, Governance und Kontextsteuerung ersetzen statische Gesetzgebung.»
(Quelle: e-healthforum)
Der Wandel lässt sich also nicht auf den technischen Bereich reduzieren. Auch das Mindset und die gewohnten Strukturen verändern sich.
Netzwerke lösen Systeme ab
Den Unterschied zwischen einem Netzwerk und einem System definiert Prof. Dr. Andréa Belliger wie folgt: «Im Gegensatz zu Systemen haben Netzwerke durchlässige und unscharfe Grenzen. Es ist weniger wichtig zu wissen, wer oder was dazu gehört, als zu wissen, wer mit wem verbunden ist.»
Die Grenzen werden also weicher oder verschwinden. Dafür zählen die Verbindungen und daraus entstehende Knotenpunkte im Netzwerk.
«Ein System ist geschlossen, es hat Grenzen und kann Personen ein- und auch ausschliessen. Ein System teilt klare Rollen zu und setzt diese in Beziehung zueinander. Ganz anders das Netzwerk: Es ist offen und kennt weder Laien noch Profis. Die ersten Unternehmen haben ihre Hierarchien bereits zugunsten von Netzwerken abgeschafft: Entscheidungen sollen da getroffen werden, wo die Fachkompetenz ist. Wo das hinführt – wir wissen es nicht. Wir sind alle Laborratten. Technologien entwickeln sich rasant, disruptiv – und mit ihnen unsere ganze Welt. Wir müssen Wege finden, mit dieser Komplexität, diesen Veränderungen umzugehen.»
(Quelle: Arzt/Spital/Pflege)
Was in den HR-Bereichen bereits Thema ist, wenn es darum geht, die Generation Y und Z zu rekrutieren, wird sich also im gesamten System bemerkbar machen.
Die Pandemie hat vermutlich in erster Linie unserem Denken den nötigen Schub in Richtung digitalisiertem und vernetztem Gesundheitswesen mit Kooperationsgedanken und Plattformen gegeben. Was zuvor ausgiebig diskutiert werden wollte, musste aus den gegebenen Umständen dann schlicht funktionieren. Und das tat es auch.
Wohin geht die Reise?
Ein Sprichwort sagt «Es ist einfach, Dinge kompliziert zu machen und es ist kompliziert, Dinge einfach zu halten.»
Scheuen wir uns vor komplizierter Denkarbeit? Oder haben wir gar Angst, uns in einer Umgebung wiederzufinden, die komplex und nicht mehr kontrollierbar geworden ist, so wie das Netzwerke typischerweise an sich haben?
So oder so: Wenn sich die Grenzen im Kopf auflösen, ist manches einfacher umzusetzen als zuvor gedacht.