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Bringt Temporärarbeit mehr Flexibilität für das Gesundheitswesen?

Geschrieben von mbl | 30.08.22 12:00

Bringt Temporärarbeit mehr Flexibilität für das Gesundheitswesen?

Temporärarbeit gibt es schon seit langer Zeit. Oft aber sahen sich Temporärarbeitende mit Vorurteilen konfrontiert. Vielfach wurde vermutet, sie finden keine feste Anstellung oder seien nicht team- oder anpassungsfähig. Im Gegenzug begründeten sie ihre Temporärarbeit oft damit, dass sie nur zur Überbrückung sei, da sich gerade keine geeignete Feststelle finden lasse. Doch diese Argumente – von beiden Seiten – sind überholt.

Irgendwo zwischen der Neugestaltung der Arbeitswelt und dem Mangel an Fachpersonal hat sich ein neuer Bedarf an flexiblen Arbeitseinsätzen entwickelt. Und schon haben wir es wieder, das Spannungsfeld zwischen Kollaboration und Autonomie. Diesmal allerdings beruht es auf Gegenseitigkeit: Arbeitnehmende und Gesundheitsbetriebe teilen dieses Bedürfnis. Und damit wandeln sich auch die Vorbehalte. Die durch Onlineplattformen ermöglichten Modelle von Crowd Work, also virtueller/ortsunabhängiger Arbeit, und Gig Work, also physischer/ortsgebundener Arbeit, geben einen Ausblick auf die durch die Digitalisierung verursachte Disruption.
Heute ist mit dem temporären Arbeiten oft ein Gefühl von Freiheit verbunden. Arbeitnehmende werden sozusagen zu einer «Einzelunternehmung light». Denn in der sogenannten Gig-Economy werden die Aufträge, eben die Gigs – wie in der Musikszene schon lange gang und gäbe –, meistens über einen Dritten vermittelt. In der Regel treffen sich Arbeitsuchende und Arbeitgebende heute auf Onlineplattformen. Wer Gig-Wirtschaft sagt, denkt darum oft an Uber-Fahrer, Task-Rabbit-Mitarbeitende, Airbnb-Vermieter, Online-Marktplatz-Verkäufer oder auch an Ehrenamtliche und Künstler. Doch die Liste sollte weitergehen und auch Arbeitnehmende auf Abruf, Mehrfachbeschäftigte, Kontingent- und Teilzeitbeschäftigte, hochqualifizierte Auftragnehmende, Berater u.a.m. beinhalten.

 

Warum immer mehr Health Professionals Temporäreinsätze vorziehen

Auszug aus einer Studie von BCG Henderson
Die drei wichtigsten Prioritäten für alle Arten von Freiwilligen in der Gig-Economy sind: Zeit für sinnvollere und interessantere Aufgaben zu haben, selbstständig zu sein und die Vollzeitarbeit flexibler an private Bedürfnisse anzupassen. Infolgedessen gaben sie auch an, glücklicher und zufriedener mit ihrer Arbeit zu sein als Menschen in traditionellen Vollzeitbeschäftigungen, obwohl sie eher mehr als 45 oder sogar 60 Stunden pro Woche arbeiten und etwas weniger verdienen.

 

Viele Pflegefachpersonen wünschen sich mehr Flexibilität und Selbstbestimmung für ihre Arbeitseinsätze. Temporäre Einsätze machen genau dies möglich. Arbeitnehmende bestimmen selber, wie oft, mit welchem Pensum und in welchen Betrieben sie arbeiten wollen. Zudem erlaubt die Gig-Economy beispielsweise auch das Koppeln von verschiedenen Projekten. Dadurch lassen sich in kurzer Zeit vielfältigere Erfahrungen sammeln. Zudem ist auch möglich, dass in einer Festanstellung eher auf eine spezifische Aufgabe gewartet werden müsste, bis ein Platz im entsprechenden Team frei wird.

Bei der temporären Arbeit werden gezielte Kompetenzen für spezifische Einsätze angefragt. Und die bewusst gewählten Arbeitseinsätze können individuell mit Auszeiten zum Reisen oder mit Weiterbildungen kombiniert werden.

 

Und wo liegen die Vorteile für Gesundheitsbetriebe?

Schon länger setzen Unternehmen auf externe Temporärmitarbeitende, wenn sie kurzfristige Lücken füllen oder starke Schwankungen ausgleichen mussten, denen sie mit Festangestellten oder eigenen Pools nicht mehr mächtig wurden.
Um Auslastungsschwankungen über diese Mitarbeiterressourcen abzufangen, stellen heute immer mehr Leistungserbringer im Gesundheitswesen ihre Planung bewusst auf dieses Modell um. Erhebungen zeigen, dass externe Mitarbeitende dabei ähnlichen Monitoringprozessen wie interne Mitarbeitende unterliegen sollten. Das Einhalten von Zielen, Milestones, Reviews u.a. von externen Mitarbeitenden gewinnt zunehmend an Relevanz, um die Zahl an festangestellten Mitarbeitenden zu reduzieren. Und sich als Unternehmen entlang des tatsächlichen Ressourcenbedarfs zu orientieren.

Zusätzlich bietet die externe Flexibilisierung die Möglichkeit, Fachpersonen in den Arbeitsalltag zu integrieren, denen ein Einsatz in einer Festanstellung nicht möglich wäre. Beispielsweise Mitarbeitende mit niedrigen Teilzeitpensen oder solche aus Pensionierten-Pools. In Anbetracht des zunehmenden Fachkräftemangels liegt hier grosses Potenzial.

 

Wie sieht die Zukunft aus?

Es vollzieht sich ein Wandel der Gig-Economy zu einer Talent-Economy: Analog zu der wirtschaftlichen Entwicklung von Cloud Computing entwickeln sich neue Konzepte von Anstellung und Arbeit. Eine zunehmend flexible Workforce wird sich kontinuierlich den Anforderungen anpassen. Anstatt Mitarbeitende zu suchen, werden temporäre Fähigkeiten für bestimmte Aufgaben angeworben. Diese Form der Dienstleistungsarbeit wird gemäss Studien zukünftig ca. 40 Prozent der Produktivität ausmachen.

Beim Entscheid für oder gegen die externe Flexibilisierung von Mitarbeiterressourcen geht es allerdings nicht nur um die harten Fakten. Es geht nicht nur darum, wie ein Unternehmen direkt monetär von dieser Option profitiert.

Temporäre Mitarbeitende gleichen im Mindset einer Einzelunternehmung. Sie wissen um ihre Vergütung pro «Gig» und sind sich bewusst, dass sie eigenverantwortlich handeln. Sie sind sozusagen ihres Arbeitsglückes eigener Schmied. Bei all den genannten Vorteilen für die Temporärmitarbeitenden stellt sich auch die Frage, ob Freelancing allenfalls eine Art Umgehungslösung zu besseren Arbeitsbedingungen darstellt.

Denn gerade im Gesundheitswesen ist Mitarbeiterzentriertheit als Teil der New Work auf dem Reissbrett immer wieder Thema. Oft aber verlaufen die Massnahmen in der Praxis im Sand. Zu starre Hierarchien, zu wenig Mitbestimmungsrecht, wenn es um Arbeitseinsätze geht – flexiblere Arbeitsmodelle in Bezug auf Teilzeitarbeit oder Vereinbarkeit mit der Familienplanung könnten mit dem Entscheid, selbst über die Arbeitseinsätze bestimmen zu wollen, in Zusammenhang stehen.

So wie Plattformen wie Uber oder Airbnb ganze Tourismusbranchen umgekrempelt haben, dürfte sich die Arbeitswelt durch die Plattformökonomie* auch verändern. Mehr Projektbezug, stärkere Spezialisierungen und entsprechend Auftrag pro Aufgabe anstatt einer generischen Festanstellung werden die Folge sein.

Wie dem auch sei: Fest steht, dass der Entscheid für eine externe Flexibilisierung immer auch ein Entscheid für die Weiterentwicklung der Unternehmenskultur und somit die frühzeitige Adaption des Mindsets von Crowd Work oder Gig Work ist.

 

Was ist Plattformökonomie?
Als Plattformökonomie bezeichnet man die Vielzahl von Onlineplattformen, die Mitarbeitende zur Verfügung stellen bzw. über die Mitarbeitende direkt akquiriert werden können. Die Mitarbeitenden agieren als Mikrounternehmer, arbeiten zeitlich und örtlich sehr viel flexibler und sind unabhängig, da sie nicht von den Plattformbetreibern angestellt werden. Zudem fallen sie nicht unter den geltenden Arbeitnehmerschutz (wie z.B. Kündigungsschutz oder Sozialversicherungsbeiträge des Arbeitgebers), da solche Freelancer meist als selbstständig erwerbstätig gelten. Die Plattformen sind sowohl als B2C- als auch B2B-Lösungen verfügbar.

 

(Quellen: Konnektivität, Zukunftsreports, Zukunftsinstitut.de | Partizipation in der Gesundheitsförderung, Gesundheitsförderung Schweiz | Future Workforce Report 2021, Upwork | Flexible Workforce Studie, BearingPoint | Future Work Barometer 2021-1 | Arbeitswelt 4.0, FHNW, HSG | Zukunft der Arbeit - Perspektive Mensch, Springer Gabler | Wirtschaft und Arbeit, Plattformökonomie, Bayerisches Forschungsinstitut für digitale Transformation)